auf dem Mont Ventoux, 18.9.

Nachts windete es stark und es zogen viele Wolken. Hin und wieder prasselte etwas Regen an die Wände meines Zelts. Doch jetzt scheint die Sonne aus einem tiefblauen Himmel, gegen Morgen zu ein schmales Wolkenband und die etwas entfernteren Täler rundherum liegen (noch?) im Dunst.
Gestern fuhr ich 90 km von Sisteron hierher, 2 Pässe (Col de la Pigière; Col de Macuegne); nach dem zweiten ging es noch einmal weit runter, so daß ich von Montbrun-les-Bains nach Sault wieder ein gutes Stück hochfahren mußte. Um 17.00 Uhr war ich erst in Sault, die Vernunft sagte, ich solle dort übernachten (denn ich war schon recht angestrengt), der Wille bestand auf Hochfahren. Der Wille siegte um viertel vor sechs.
Im ersten Drittel des Anstiegs, das zwischen Lavendelfeldern in den Hochwald hineinführt, hatte ich noch mehrere Anfälle von Abbrechen-Wollen an schönen potentiellen Rastplätzen. Doch danach konzentrierte ich mich ungeteilt und ungestört auf den Anstieg. Auf einem Parkplatz am Fuße des eigentlichen Passes oberhalb der Baumgrenze noch eine kurze Rast, während die Sonne in letzten Strahlen orange ausleuchtete. Franzosen mit Auto bauten hier ihr Zelt auf. Es schien die letzte Möglichkeit zu sein, denn oberhalb liegen, soweit das Auge reicht, nur steile Kieshänge ohne jeden Bewuchs. Doch ich schenkte dieser Möglichkeit nur einen kurzen Augenblick des Zögerns.
Während des weiteren steilen Anstiegs wird es dunkel und wieder hell. Erst geht die Sonne unter, dann, mit einer kleinen Verzögerung, der Mond auf. Er beleuchtet die Szenerie von halblinks über mir. Der Anstieg ist extrem steil und anstrengend. Statt des erhofften Brunnens finde ich rechts der Straße das Grab- bzw. Denkmal des englischen Radfahrers Tom Simpson, der hier - im Gesamtclassement der Tour de France führend - bei Gluthitze tot vom Rad fiel und wenig später an totalem Kreislaufversagen starb.


Die letzten 100 Höhenmeter sind reine Qual. Oben bietet sich mir statt des Ausblicks eine Ödnis aus Parkplätzen und abweisenden Gebäuden. Das ist aber auch nicht so schlecht.
Das Observatorium riecht nach Diesel und klingt wie ein Schiff.
Von hinten röhren laut Gebläse. Eine Steinmauer bildet die Reeling, die Straße, die hier nach links und rechts im Dunkel verschwindend zum Parkplatz ausgeweitet ist, macht das Deck, rundherum unendlich das Meer, dessen wogende Oberfläche im Dunkel unerkennbar bleiben muß. Das Blitzen der Lichter im Rhonetal ist die Gischt, die dann und wann einzelne Lichtreflexe sendet. Hinter mir erhebt sich die Kommandobrücke - das Observatorium - abweisend turmhoch. Natürlich ist ihr Betreten für mich Normal-Sterblichen verboten.
Der Wind bläst böig und empfindlich kalt. (Es riecht nach Gebirge und Höhenluft.) Ich ziehe mir warme Sachen an und esse einen Gipfelapfel. Der Versuch, einen zünftigen Gipfelschnaps zu trinken, schlägt leider fehl. 2,3 Tropfen aus dem leeren Flachmann, das ist kein Umhauer, auch nach fast einer Woche Alkoholabstinenz.

La cabane du Berger

Hinter einer Öffnung in der die nächste Kehre einfassenden Steinbrüstung beginnt ein abschüssiger Steinpfad auf einem Grat, der mit Pfählen markiert ist. Dort hinab finde ich zwischen einer Kapelle und einem an den Hang gedrückten Verschlag, fast uneinsehbar von der Straße und vom Gasthaus, eine ebene Stelle mit Gras- und Moosbewuchs, auf der ich mein Zelt errichten kann. Vom Gasthaus her bellt ein Hund, doch das beunruhigt mich nicht weiter.
Als ich gerade - mein Schicksal freudig begrüßend - anfange, das Zelt aufzubauen, kommt ein Geländewagen, langsam und bedrohlich, den Abhang heruntergefahren. (Auf der anderen Seite der Kapelle führt, vom Parkplatz des Gasthauses her, ein befahrbarer Weg.) Er hält, kaum zehn Meter von mir entfernt, vor dem Verschlag. Es entsteigt ein Mann, der mich aber nicht weiter zu beachten scheint, und öffnet die Heckklappe, aus der im Moment bellend vier mittelgroße Hunde springen, auf mich zu. Ich hebe in einer beschwichtigenden und abwehrenden Geste die Hände, sage etwas Hilfloses wie "Un moment ..." - doch auf ein kurzes und bestimmtes "Ici!" des Mannes scharen sich alle Hunde ruhig um ihn und verschwinden in dem Verschlag, den er inzwischen geöffnet hat.
Als ich mir ein Herz fasse und den Mann anspreche - der mich bis jetzt kaum bemerkt zu haben scheint -, versichert er mir freundlich, daß es überhaupt kein Problem sei, wenn ich hier eine Nacht bleiben würde.

Heute morgen lese ich auf der Tür seines Verschlags:
LA
CABANE
DU
BERGER