Entwertung der Ferne - Absolutwerden des Zeichenraums
Koschorke schreibt über Wilhelm Raabes Roman "Pfisters Mühle" und über "Annullierung der Ferne": Noch einmal soll die Mühle ein Schauplatz sein, aber ein Schauplatz des Schreibens. (...) Was sich erst auf eine außertextuelle Referenz bezog, steht nun als Zeichen absolut, weil der Text selbst die letzte Erfahrungsrealität, das letzte "Wunder" ist. Deutlicher kann innerhalb eines realistisch gehaltenen Szenarios nicht akzentuiert werden, daß der Text die paradoxe Aufgabe übernommen hat, weniger epische Wiedergabe als Substitut seines Gegenstands zu sein. (...)
Was auf der Ebene der Bildlichkeit die Entwertung der Ferne des perspektivischen Tiefenraumes ist, stellt sich semiotisch als Absolutwerden des Signifikanten dar. (...) Das "Gemachte" besteht aus Repräsentanzen, die nicht hinter sich zeigen, sondern nur die Nachbarschaft zu anderen medialen Repräsentationen kennen, so daß ein flächiges Netz wechselseitiger Verweise und Verschiebungen entsteht." (S.318ff.)
Text - Landschaft (Reisender in Texten)
Jetzt bin ich an meinem Ausgangspunkt angelangt: Mit den Ausführungen über die Entwertung des Blicks in die Ferne konnte ich solange nichts anfangen (weil sie meinem eigenen Erleben und dem mir vorliegenden Material, den Mythen der Straße und der Reise im 20.Jahrhundert, zu widersprechen schienen), solange dieser entscheidende zweite Punkt nicht dazugekommen war: der Vorranggewinn des Textes über sein Material (die Landschaft).
Ich bin Reisender in Texten, aber ich brauche die Landschaft/die Welt - als multidimensionaler Raum, als Projektionsfläche und als Zufallsgenerator - und die physische Bewegung; sie regen meine Einbildungskraft und mein Denken an, sie sind Modalitäten und Medien meiner Wahrnehmung.
Das Glück liegt im Zusammentreffen der (richtigen) Landschaft mit dem (richtigen) Text!
Wer ein Gefühl für Reisen hat, bringt gedachte und reale Bewegungen weitgehend zur Deckung (...). In diesem Sinn reist er eigentlich nicht in die "Fremde", sondern in das "Eigene".
(H.J.Heinrichs, Landkarten des Ethnopoetischen, S.216)
Zum Inversionsphänomen:
(Koschorke beschreibt ausführlich anhand der post-romantischen Literatur, insbesondere Baudelaires, wie sich die emphatisch begrüßte Immanenz der Welt in dem Moment ins Klaustrophobische kehrt, in dem auch der letzte Rest Transzendenz, also Glauben an irgendetwas "Höheres", entschwunden ist. Er bezeichnet dieses Phänomen der Wendung der Konstruktionen/der Konstruiertheit gegen ihre Schöpfer als Inversion: Die Inversion bildet (...) eine genaue Schaltstelle zwischen der affektiven Entleerung der Natur, der inneren Erstarrung des Ich und einer halluzinatorischen Wiederkehr von Partikeln seiner eigenen Lebenszeit (S.289).)
Entspricht dem relativ abgeklärten Umgang mit der Eingeschlossenheit am Ende des 20. Jahrhunderts nicht das Anstreben von "leeren" Zuständen (zum Beispiel bei extremer körperlicher Anstrengung wie dem Befahren von Paßstraßen mit dem Fahrrad)?
Wichtig noch, das Aufschubprinzip:
die Übertragung des romantischen Aufschub-Prinzips (eine Erfüllung, die immer angestrebt, aber nie erreicht werden darf) auf die bürgerliche Ökonomie des Lebens (Benjamin: Kapitalismus als Religion!) und die Verschiebung des Horizonts auf das jeweilige Medium - in meinem Fall, die Straße. |